Das Institut

Mittwoch, 7. Juni 2023

Anne Frank Tag 2023, Frankfurt am Main

Fritz Bauer: »Lebendige Vergangenheit« / Angebote des Instituts

Am 12. Juni 1929 ist Anne Frank in Frankfurt am Main geboren. Um den Tag ihres Geburtstages herum veranstaltet die Stadt Frankfurt am Main in Kooperation mit der Bildungsstätte Anne Frank seit vielen Jahren den Anne Frank Tag, der mit vielfältigen Veranstaltungen an Anne Frank erinnert und ein Zeichen gegen Antisemitismus, Rassismus und Diskriminierung setzt. Das Fritz Bauer Institut beteiligt sich mit einer Vortragsveranstaltung mit Wolf Kaiser sowie einem Workshop für Schulklassen (s.u.).

Im Rahmen einer Gedenkfeier für Anne Frank in der Aula der Goethe-Universität Frankfurt am Main, hielt Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer am 9. Juni 1963 eine Ansprache über ihre Bedeutung für Gegenwart und Zukunft. Anlässlich des Anne Frank Tags veröffentlichen wir Auszüge aus seiner Rede:

Fritz Bauer: »Lebendige Vergangenheit«

»Wir hier gedenken der Anne Frank. Wieviele sonst? Solange eines Menschen gedacht wird, ist er nicht tot. Auch der lebendige Mensch bedarf des Gedenkens, sonst siecht er dahin und stirbt. Gedenken kann am Leben erhalten oder doch das Sterben oder Erschlagenwerden erleichtern.

Niemand hat das deutlicher gespürt als Anne Frank. Sie erfuhr die Einsamkeit des Menschen, zumal des jungen Menschen, die unser aller Schicksal ist. Sie suchte den anderen, den sie in ihrer geträumten Freundin Kitty fand. Kälter, leerer wurde es im Versteck des Hinterhauses von Amsterdam, aber wenn die Franks, van Daans und später noch Herr Dussel die Enge des Verstecks, das fast schon an Sartres Hölle erinnert, ertrugen, war es – wie ich glaube –, weil eine Nabelschnur sie mit den Niederländern verband, die ihrer gedachten und ihnen halfen, Miep, Elli, Kraler, Henk, der Gemüsemann an der Ecke und all die anderen Unbekannten, die auf ihrer Seite standen, ohne die Gefahren für Freiheit, Leib und Leben zu scheuen. Anne Frank berichtet auch von dem Hirtenbrief der holländischen Bischöfe. Sie glaubte nicht, daß er den Juden hilft, aber sie schreibt doch: ›Er ist großartig und feuert die Menschen an: Bleibt nicht ruhig, Niederländer. Jeder muß mit seinen Waffen fechten für die Freiheit von Volk, Vaterland und Religion! Helft, gebt, zögert nicht!‹ So Anne Frank. […]

Anne Frank, visionär wie sie war, schaute Auschwitz und Bergen-Belsen und fürchtete die große und endgültige Verlassenheit des Vernichtungslagers, das ihr bevorstand, wenn das Versteck verraten würde. In einer Novembernacht 1943 träumt sie zwischen Tag und Nacht von ihrer Schulfreundin Lies: ›Sie stand vor mir in Lumpen gekleidet, mit eingefallenem mageren Gesicht. Mit großen Augen sah sie mich traurig und vorwurfsvoll an, als wollte sie sagen: Anne, warum hast Du mich verlassen? Hilf mir doch! Rette mich aus dieser Hölle! Sie war mindestens so fromm wie ich, sie wollte immer das Gute. Warum bin ich denn ausersehen zu leben und sie soll vielleicht sterben? Welcher Unterschied war zwischen uns? Warum sind wir nun so voneinander getrennt? Lieber Gott, hilf ihr, daß sie nicht ganz allein ist. Laß Du sie wissen, daß ich in Liebe und Mitgefühl an sie denke. Vielleicht gibt ihr das Kraft, um auszuhalten … Ich werde sie nie vergessen …‹

Anne Frank spricht von sich und Lies. Täuschen wir uns nicht über den Sinn des Tag- und Nachttraums. Er handelt von mehr als nur Anne und Lies. Er handelt auch von der Mitwelt der beiden Mädchen. Er spiegelt den heißen Wunsch der jungen, den Tod fürchtenden Anne, die Welt, die Umwelt, nicht zuletzt die deutsche Umwelt möge denken und handeln wie sie im Traum, die Umwelt möge der Erniedrigten und Beleidigten, der Mühseligen und Beladenen in Liebe und Mitgefühl gedenken und ihnen helfen. […]

In einer Zeit, in der Rassenkämpfe in Südafrika und in den Südstaaten Nordamerikas wieder uns bewegen und erregen, erinnern wir uns, daß alle Menschen nach dem Bilde Gottes geschaffen sind, daß alle Völker und Rassen gleich nahe zu Gott und seine Gedanken sind. Sie alle sind wie Du. Die Menschen, wo immer sie sind, erleben dieselben Freuden und dieselbe Trauer, sie weinen und lachen in gleicher Weise. Die Eltern lieben ihre Kinder, und die Kinder suchen den Schutz von Vater und Mutter; die Kinder spielen, an welchen Kontinent, an welches Land, an welche Klasse wir auch immer denken, in Nord und Süd, in West und Ost den gleichen Ringelreihen. Anne Frank hat gerade dies den Menschen deutlich gemacht.«

Aus: Vorgänge. Eine kulturpolitische Korrespondenz, Jg. 2, H. 7, 1963, S.197–200, abgedruckt in: Fritz Bauer. Kleine Schriften, Band 2 (1962–1969), herausgegeben im Auftrag des Fritz Bauer Instituts von Lena Foljanty und David Johst. Frankfurt am Main/New York 2018, S. 1.069–1.075.

Faksimile der Ansprache Fritz Bauers

»Lebendige Vergangenheit« (pdf-Datei)
 

Anne Frank Tag 2023
Angebote des Fritz Bauer Instituts

Vortrag von Dr. Wolf Kaiser:
»Wie halten wir das aus, diese schrecklichen Ereignisse?«
Holocaust-Tagebücher jüdischer Kinder und Jugendlicher

Montag, 12. Juni 2023, 18:15 Uhr
Goethe-Universität Frankfurt am Main, Campus Westend,
Norbert-Wollheim-Platz 1, Casino-Gebäude, Raum 1.802
Moderation: Nadine Docktor, Fritz Bauer Institut
Weitere Informationen

Workshop für Schulklassen:
Antisemitismus nach 1945
Montag, 12. bis Freitag, 16. Juni 2023
Tag und Uhrzeit nach Vereinbarung
Goethe-Universität Frankfurt, Campus Westend, oder in der jeweiligen Schule,
Dauer 3,5 Stunden, Eintritt frei
Anmeldung: anmeldung(at)fritz-bauer-institut.de
Weitere Informationen

Gesamtprogramm

Programmfolder (pdf-Datei)

Der Anne Frank Tag 2023 wird veranstaltet von der Stadt Frankfurt am Main, der Bildungsstätte Anne Frank und zahlreichen kooperierenden Institutionen.


Zurück zu allen Mitteilungen