Im Sommersemester 2024 unternahmen Studierende der Goethe-Universität Frankfurt eine Studienfahrt nach Terezín, Lidice und Prag. Sie hatten zuvor das Seminar »Adolf Eichmann – Symbolfigur des Holocausts» (Prof. Dr. Sybille Steinbacher) oder die Übung »Den Holocaust erforschen« (PD Dr. Tobias Freimüller) besucht. Wie schon die Exkursionen des Fritz Bauer Instituts in den vorherigen Jahren wurde die Reise von Dr. Andreas Kahrs (»whatmatters!« GmbH) organisiert. Wiederum hat die Firma Evonik die Reise finanziell ermöglicht. Markus Langer, Geschäftsführer der Evonik Stiftung, hat die Exkursion begleitet.
Theresienstadt
Einen Schwerpunkt der fünftägigen Studienfahrt bildete der Besuch des Geländes des ehemaligen Ghettos Theresienstadt. Die Nationalsozialisten wählten im Herbst 1941 den Ort Terezín, eine ehemalige Garnisonsstadt nordwestlich von Prag, gezielt für ihre Deportationspläne aus, da die Stadt durch ihre Festungsmauern leicht abzuriegeln war und Fluchtmöglichkeiten somit nahezu ausgeschlossen wurden. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Terezín etwa 3.000 Menschen, die zur Errichtung des sogenannten Durchgangslagers vertrieben wurden. Zunächst wurden Juden und Jüdinnen aus dem »Reichsprotektorat Böhmen und Mähren« nach Theresienstadt verschleppt, bevor die Deportationen Anfang 1942 deutsche und österreichische Juden trafen.
Die Stadt wurde als militärische Anlage streng symmetrisch angelegt, was an den Straßenzügen und den ehemaligen Kasernengebäuden bis heute zu erkennen ist. Wir starteten unseren Besuch im Hof der Magdeburger Kaserne. Ab 1941 waren hier die Büroräume und Wohnungen des Ältestenrats sowie der »jüdischen Selbstverwaltung« untergebracht, die unter der direkten Kontrolle der SS-Lagerkommandantur standen. Einigen der Studierenden ist Theresienstadt insbesondere als »Altersghetto« bekannt – ein Lager, in das die Nationalsozialisten ab Anfang 1942 Juden und Jüdinnen über 65 Jahre deportierten, die als »nicht arbeitsfähig« galten und deshalb keine Zwangsarbeit leisten konnten. Theresienstadt, das in gezielten Täuschungsversuchen als »Vorzeigeghetto« ausgebeben wurde, war bald ein Durchgangslager für Juden und Jüdinnen aus ganz Westeuropa, bevor sie in die Ghettos und Mordlager weiterdeportiert wurden. Es mussten bis zu 58.000 Menschen auf engstem Raum zusammenleben, insgesamt waren es rund 141.000 Juden und Jüdinnen, die nach Theresienstadt verschleppt wurden. 33.000 kamen im Lager um.
Das Ghetto Museum
Um über die Geschichte Theresienstadts im System des Holocaust mehr zu erfahren, besuchten wir das Ghetto Museum, das in einem der vielen gelb angestrichenen Gebäude untergebracht ist, es trägt die L417. In dem Haus befand sich das ehemalige Kinderheim für tschechische Jungen, das von der »jüdischen Selbstverwaltung» errichtet wurde, um den Kindern trotz der widrigen Lebensbedingungen erträgliche Umstände im Lager zu schaffen. Die Ausstellung des Museums arbeitet die Geschichte des Lagers im Kontext der »Endlösung der Judenfrage» auf. Gleich zu Beginn nimmt sie Bezug auf die Geschichte und Bedeutung des Hauses selbst. In der »Memorial Hall of Children« sind im Gedenken an die nach Theresienstadt deportierten Kinder ihre Namen sowie ihre Gedichte und Zeichnungen, die im Lager entstanden sind, zu sehen. Insgesamt wurden etwa 10.500 Kinder unter fünfzehn Jahren in das Ghetto deportiert, 400 Kinder starben dort, während 7.500 Kinder in die Ghettos und Vernichtungslager in die besetzen Gebiete weiterdeportiert wurden. Trotz des Verbots wurden in den Heimen für die Kinder Unterrichtsstunden und Kulturprogramme organisiert. Im Kinderheim mit der Adresse L417 gaben die Jungen unter der Anleitung des Erziehers Walter Eisinger die Zeitschrift Vedem (dt. »Wir führen«) heraus. Die Zeitschrift offenbart ihre Perspektive auf das Leben in Theresienstadt und zeigt, wie sie ihre Erfahrungen in Artikeln, Zeichnungen und Gedichten festhielten.
Um einen räumlichen Eindruck des ehemaligen Lagergeländes zu gewinnen, erschlossen wir uns Terezín mithilfe von Zeitzeugenberichten, darunter die Aufzeichnungen von Ruth Klüger und Helga Pollak-Kinsky. Beide wurden als Kinder nach Theresienstadt deportiert und überlebten später den Holocaust. Ruth Klüger erinnert sich an das Kinderheim für deutschsprachige Mädchen, in dem sie untergebracht war und das direkt an der Hauptstraße gegenüber dem zentralen Marktplatz lag. Sie berichtet eindringlich vom chronischen Hunger und der Enge, die sie überall erlebte. Klüger macht deutlich, welche wichtige Bedeutung der Zusammenhalt unter den Jugendlichen in all dem Elend für sie hatte. Helga Pollak-Kinsky veröffentlichte nach dem Krieg ihre und die Tagebuchaufzeichnungen ihres Vaters, die sie beide in Theresienstadt verfassten. Sie war in dem Mädchenheim mit der Adresse L410 untergebracht, das ebenfalls am Marktplatz lag und in dem sich heute Wohnungen befinden. Ihren Erzählungen folgend liefen wir entlang des ehemaligen zentralen Krankenhauses im Lager, das heute als große Ruine hinter Mauern liegt. Erinnerungstafeln weisen darauf hin, dass sich hinter dem Krankenhaus als Teil der Festungsanlage die Kavalierskaserne befand, wo unter unmenschlichen Bedingungen alte und psychisch kranke Menschen untergebracht waren. Zwei Orte, die im Lageralltag und auch in den Berichten von Helga Pollak-Kinsky und ihrem Vater eine zentrale Rolle spielen, sind die Ankunfts- und Abgangsorte in Theresienstadt. In der Bodenbacher Kaserne im Norden des Lagers befand sich bis 1943 die »Schleuse«, die alle ankommenden Häftlinge zur Registrierung und Gepäckkontrolle passieren mussten. Die im Süden gelegene Hamburger Kaserne wurde als Schleuse für die Abfertigung der Transporte nach Auschwitz genutzt. Helga Pollak-Kinsky beschreibt, wie sie um 6 Uhr früh aufstand um noch einmal Zdenka, eine Freundin, die zusammen mit ihrer Familie deportiert wurde, zu sehen, die jedoch bereits in einem der verbarrikadierten Güterzüge eingesperrt ist. Heute befinden sich in dem renovierten Haus Räume der Bibliothek des tschechischen Nationalmuseums; eine bronzefarbene Plakette weist auf seine Vergangenheit hin.
Orte der Erinnerung in Theresienstadt
Am nächsten Tag besuchten wir weitere Orte der Erinnerung an die ermordeten Juden und Jüdinnen in Theresienstadt, die zum Großteil außerhalb der Festungsmauern liegen. Der jüdische Friedhof, im Süden von Terezín gelegen, wurde kurz nach der Errichtung des Ghettos auf einem Gelände geschaffen, auf dem nach dem Ersten Weltkrieg sowjetische Soldaten begraben worden waren. Zunächst wurden die verstorbenen Jüdinnen und Juden in Einzelgräbern bestattet, bevor die Häftlinge aufgrund der hohen Mortalitätsrate bedingt durch die furchtbaren Lagerbedingungen Massengräber ausheben mussten. Heute erinnern Grabsteine, auf denen die Namen vieler Verstorbenen festgehalten sind, an die hier begrabenen Menschen.
Ab 1942 mussten Häftlinge auf Anordnung der SS ein Krematorium auf dem Friedhof errichten, in dem die Leichen von etwa 30.000 Opfern aus dem Ghetto, der Kleinen Festung und dem nahegelegenen KZ Leitmeritz verbrannt wurden. In den Räumen des Krematoriums befindet sich heute eine Ausstellung über die Bestattungsrituale und insgesamt über die Geschichte der Vernichtungspolitik in Theresienstadt. Die Asche der Ermordeten wurde in den Räumen des Kolumbariums in der Festungsmauer untergebracht. Dort erinnern Gedenktafeln von Familien an ihre Angehörigen, die in Theresienstadt umkamen.
Zuletzt besuchten wir einen Gedenkort, der abseits der Straße an der Eger liegt. Die meterhohe Skulptur einer betenden Frau, auf der unzählige Gesichter eingraviert sind, und die Statue einer Urne erinnern daran, dass Häftlinge im Oktober 1944 gezwungen wurden, die Asche, die im Kolumbarium aufbewahrt wurde, zu verstreuen, da die SS sämtliche Spuren ihrer Taten beseitigen wollte. Überlebende des Lagers errichteten nach der Befreiung hier den ersten Ort jüdischen Gedenkens.
Bei unserem Besuch der »Kleinen Festung«, dem ehemaligen Gestapo-Gefängnis etwa 15 Gehminuten von Terezín entfernt, in dem jüdische und politische Häftlinge festgehalten wurden, wird die Geschichte der staatlichen Erinnerungspolitik in der ehemaligen Tschechoslowakei und im heutigen Tschechien greifbar. Nach dem Krieg wurde vor der Kleinen Festung ein Nationalfriedhof angelegt, auf dem heute ein großes Kreuz steht. Erst dahinter erkennt man die Statue eines Davidsterns. In der nationalen Erinnerungspolitik spielte das Ghetto Theresienstadt lange kaum eine Rolle. In den späten 1940er Jahren wurde eine Gedenkstätte in der Kleinen Festung errichtet, die insbesondere den Widerstand und die Verfolgung kommunistischer Häftlinge in den Vordergrund stellte. Innerhalb der Stadt Terezín mussten Orte des jüdischen Gedenkens jedoch erkämpft werden. Erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnte 1991 das Ghetto Museum eröffnet werden, und es entstanden die Gedenktafeln und Erinnerungsorte, die heute zu finden sind. Von deutscher Seite werden Gedenkstättenfahrten nach Theresienstadt finanziell unterstützt. Darüber hinaus besteht jedoch, anders als mit Polen, auf staatlicher Ebene keine deutsch-tschechische Kooperation zur Finanzierung der Gedenkstättenarbeit.
Kunst und Sport in Theresienstadt
Die ehemalige Dresdener Kaserne liegt als eine große Ruine im Norden unmittelbar neben der Festungsmauer. Teile des Dachstuhls sind eingestürzt, auf dem gelben Gebäude steht in abgeblätterter Farbe »Varšavská smlouva. Štít socialismu« (dt. »Warschauer Pakt. Der Schutzschild des Sozialismus«), ein Überbleibsel der militärischen Nutzung der Kaserne in sowjetischer Zeit. Im Lager wurde es durch die »jüdischen Selbstverwaltung» möglich, dass Häftlinge im Kasernenhof Fußball spielen konnten. Die Fußballspiele bedeuteten für viele der Spieler und Zuschauer einen vorübergehenden Ausweg aus dem Lageralltag. Die Nationalsozialisten instrumentalisierten den Fußball als Propagandamittel, unter anderem in dem Film »Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet«, in dem sie noch gegen Ende des Krieges Theresienstadt als »Vorzeigeghetto» und die angeblich guten Lebensverhältnisse im Lager propagandierten. Ziel war es, ihre Vernichtungspolitik zu verschleiern. Heute gibt es Pläne, die ehemalige Dresdener Kaserne zu renovieren und einen Begegnungsort für sportbegeisterte Menschen zu errichten. Es ist jedoch unklar, ob das Projekt aufgrund der hohen Kosten realisiert werden kann.
Magdeburger Kaserne
Ebenso wie Sport spielte auch Kunst eine wichtige Rolle im Lageralltag. Eine Ausstellung in der Magdeburger Kaserne widmet sich dem Thema Kunst und Kultur, die in Theresienstadt entstand. Eindrucksvoll werden die Biografien der Musiker und Komponisten aufgearbeitet, auch die Kunstwerke bekannter Künstler, die nach Theresienstadt deportiert wurden, sind hier ausgestellt.
Am Abend beschäftigten wir uns mit der Rolle der »Judenältesten» in der Geschichte des Lagers. In dem Film Der Letzte der Ungerechten (2013) von Claude Lanzmann zeigt der Regisseur ein Interview, das er 1975 mit dem Rabbiner und Überlebenden Benjamin Murmelstein geführt hatte. Murmelstein musste den von Nationalsozialisten errichteten Judenrat in Wien leiten und war später gezwungen, als letzter »Judenältester« in Theresienstadt für die Nationalsozialisten zu arbeiten. Er schildert seine Begegnungen mit Adolf Eichmann in Wien und wie dieser die Mitarbeiter des »Judenrats« mit Gewalt bedrohte und erniedrigte.
Die »Kleine Festung«
Der vierte Tag der Exkursion begann mit einem Besuch des Archivs der Kleinen Festung, dem Terezín Memorial. Hier erhielten wir eine Einführung in die Archiv-Arbeit, welche sich hauptsächlich mit der Konservierung und Aufarbeitung der Zeugnisse der NS-Verbrechen in Terezín und Litoměřice auseinandersetzt. Dabei lässt sich die Sammlung in verschiedene Kategorien gliedern: schriftliche Dokumente, darunter sowohl Selbstzeugnisse der Ghettoinsassen als auch des nationalsozialistischen Repressionsapparats. Auch offizielle Dokumente des Ältestenrats unter Jakob Edelmann können hier eingesehen werden. Bilder und Zeichnungen, angefertigt von den zum Teil minderjährigen Ghettoinsassen, vermitteln ein eindrückliches Zeugnis der Erfahrungen und Gedanken der Inhaftierten. Darunter befinden sich etwa Exemplare der Zeitschriften der Jungen- und Mädchenheime des Ghettos, Vedem und Bonaco. Auch Kunstwerke von Gefangenen der »Kleinen Festung« werden in der Sammlung aufbewahrt.
In den Besitz des Archivs sind die meisten Gegenstände durch Schenkungen von Überlebenden oder deren Angehörigen gelangt, welche die Objekte aufbewahrt hatten. Dazu gehört eine große Sammlung von Büchern, die aufgrund fehlender Ressourcen nur nach und nach bibliothekarisch erfasst werden können. Wir bekamen die Möglichkeit, einige Bücher näher in Augenschein zu nehmen. In manchen finden sich persönliche Notizen sowie die Namen der Besitzerinnen und Besitzer, die ins Ghetto deportiert worden waren.
Im Anschluss an die Führung durch das Archiv erkundeten wir die Gedenkstätte. Die »Kleine Festung» war ursprünglich ein Teil der Befestigungsanlage Theresienstadts, bis sie von der NS-Verwaltung zu einem Gestapo-Gefängnis für politische Gefangene umfunktioniert wurde. Zunächst waren nur Männer dort inhaftiert. Mit dem Attentat auf Reinhard Heydrich, Leiter des Reichssicherheitshauptamts und stellvertretender Reichsprotektor für Böhmen und Mähren, wurde im Juni 1942 auch eine Abteilung für weibliche Gefangene errichtet. In den insgesamt vier Bereichen waren bis Kriegsende bis zu 27.000 Männer und 5.000 Frauen inhaftiert, 2.500 davon starben an unmenschlichen Haftbedingungen oder Folter, 250 wurden vor Ort hingerichtet, darunter eine Gruppe von Jüdinnen und Juden, die »versehentlich« ins Gefängnis statt ins Ghetto deportiert worden war. Auch der Maler Leo Bloch wurde gemeinsam mit seiner Frau und seinen Kollegen Bedřich Fritta, Leo Haas und Otto Ungar im Juli 1944 wegen angeblicher »Greuelpropaganda« verhaftet. Bloch, der die unmenschliche Lebensrealität im Ghetto detailgetreu festgehalten hat, wurde zu Tode geprügelt. Ein Mahnmal erinnert an die Hingerichteten der Festung.
Die Gebäude vermitteln einen Eindruck von der Vernichtungslogik des Ortes – der Schriftzug »Arbeit macht frei« prangt als zynische Verhöhnung der Opfer über einem Torbogen. Die Zellen, markiert durch ihre Blocknummern, verdeutlichen die Haftbedingungen der Gefangenen. Andere Gebäude, wie etwa die Wachstube oder die ehemalige Kommandantur mitsamt Schwimmbecken, zeigen die Lebensrealität des NS-Personals, das verantwortlich war für die Ausführung der Verbrechen. Gemeinsam erkundeten wir die Verbindungsgänge im Inneren der Festung, welche die verwinkelte Architektur der Festungsanlage verdeutlichen – in Verbindung mit den Wällen und Gräben stellte die Festung sowohl für eine Eroberung von außen als auch eine Flucht aus dem Inneren ein beinahe unüberwindbares Hindernis dar.
Der Gedenkort Lidice
Nach der Besichtigung der Kleinen Festung verließ unsere Reisegruppe Terezín in Richtung Prag. Auf dem Weg in die Hauptstadt besichtigen wir die Gedenkstätte Lidice. Hier wurden in der Nacht vom 9. auf den 10. Juni 1942 als Teil einer Welle an »Vergeltungsaktionen« wegen der Ermordung Reinhard Heydrichs die 500 Bewohnerinnen und Bewohner des Ortes durch die Kladnoer Schutzpolizei, die Gestapo und die Wehrmacht verhaftet. Ihnen wurden Verbindungen zu den Attentätern unterstellt. 173 Männer wurden hingerichtet, die Frauen und Kinder nach Ravensbrück beziehungsweise ins Ghetto Lodz deportiert, einige Frauen auch hingerichtet. 82 Kinder wurden weiter ins Vernichtungslager Kulmhof verschleppt, wo sie ermordet wurden. 17 weitere wurden nach Deutschland gebracht. Von den früheren Einwohnerinnen und Einwohnern des Dorfes überlebten lediglich 143 Frauen und 17 Kinder den Krieg. Das Dorf wurde vollkommen zerstört, auch der Friedhof. Die überlebenden Frauen und Kinder erbauten es von 1947 an einige hundert Meter entfernt wieder auf. Heute erinnern weite Wiesen mit mehreren Mahnmalen an die Ermordeten und Verschleppten. Eines davon ist das zwischen 1969 und 1989 von der Künstlerin Marie Uchytilová angefertigte Mahnmal der verschleppten Kinder. 82 Statuen erinnern an die jungen Opfer des NS-Terrors.
Prag
Die letzte Etappe der Reise war Prag, wo sich der nationalsozialistische Verwaltungsapparat des Protektorats Böhmen und Mähren befand. Nachdem wir mit Terezín den Ort gesehen hatten, an dem die Verbrechen ausgeführt wurden, besuchten wir nun den Ausgangsort der Befehlskette. Der erste Anlaufpunkt war ein Mahnmal etwas außerhalb des Stadtzentrums, das an das Attentat auf Heydrich am 27. Mai 1942 erinnert. Die sogenannte »Operation Anthropoid« wurde von Jan Kubiš und Jozef Gabčík ausgeführt. Das Mahnmal informiert auch über die Beteiligung der 14-Jährigen Jindřiška Nováková, die den beiden Attentätern bei der Flucht half.
Am fünften Tag der Reise gingen wir den Weg der Deportationen der Prager Jüdinnen und Juden nach, die nach Terezín verschleppt wurden. Dafür besuchten wir den Bahnhof Praha Bubny, von wo aus die Deportationstransporte aus Prag fuhren. Anhand des Tagebuchs von Petr Ginz, einem 14-jährigen jüdischen Jungen, der im Oktober 1942 nach Theresienstadt deportiert wurde, können die Erfahrungen der jüdischen Gemeinschaft und der Gewalt der Deportationen sichtbar gemacht werden. Er hielt das Erlebte in Zeichnungen, Erzählungen und Briefen fest, die erhalten geblieben sind. Petr Ginz wurde im September 1944 nach Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Das alte Bahnhofsgebäude wird heute als Ausstellungsort genutzt, um die Geschichte des Ortes sichtbar zu machen. Im Außenbereich befindet sich ein Mahnmal, das an die Deportationen erinnert – ein Schienenstrang, der gen Himmel zeigt. Die Straßenpassage beim Bahnhof ist nach Sir Nicholas Winton benannt, der half, hunderte jüdische Kinder aus Prag vor der Deportation zu bewahren. Winton sollte Jahrzehnte später in einem Interview diejenigen Kinder – nun selbst Erwachsene mit Familien – wiedertreffen, die er vor dem sicheren Tod rettete.
Im Anschluss daran besichtigte die Gruppe das Haus, in dem Adolf Eichmann seinen Sitz hatte, der Leiter der Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Eichmann war für die Organisation und Ausführung der Verschleppung der jüdischen Bevölkerung in Prag und der gesamten Region zuständig. Das Haus befindet sich in einem bürgerlichen Wohnviertel Prags, wo es sich unscheinbar in die Reihe an Stadtvillen des Viertels einfügt.
Das jüdische Prag
Insgesamt sechs Synagogen sind in Prag noch erhalten. Zwei werden von der jüdischen Gemeinde als Gebetsorte genutzt, die anderen vier, darunter die Pinkas-Synagoge, dienen als Museen, die sich mit der jahrhundertealten Geschichte des Judentums in Prag auseinandersetzen. Im Innenraum der Pinkas-Synagoge befindet sich ein Mahnmal mit den Namen der ermordeten Jüdinnen und Juden der Stadt, das die Wände des ehemaligen Gebetshauses vollständig bedeckt. Im Obergeschoss werden Kinderzeichnungen aus Theresienstadt präsentiert, unter anderem Skizzen von Petr Ginz. Neben dem Synagogengebäude befindet sich der Alte Jüdische Friedhof, der ein eindrückliches Bild der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Prag vermittelt – mehr als 12.000 Grabsteine sind auf dem Gelände zu finden. Eines der Gräber ist dem Rabbi Judah Löw zuzuordnen, dem der Legende nach die Schöpfung des mythischen Golems zugeschrieben wird.
Am Nachmittag besuchten wir die Trägerorganisation der Pinkas-Synagoge, das Jüdische Museum. Gegründet wurde es bereits 1906, um die Geschichte und Tradition der jüdischen Bevölkerung in Böhmen und Mähren zu dokumentieren. Mit der deutschen Besetzung wurde das Museum am 15. März 1939 geschlossen, doch bereits 1942 als Jüdisches Zentralmuseum unter der Aufsicht der deutschen Behörden wiedereröffnet. Nach dem Krieg ging es an die Stadt Prag über und wurde 1994 an die dortige jüdische Gemeinde restituiert. Heute bearbeiten die Mitarbeitenden des Museums sowohl die Unterlagen aus Theresienstadt als auch Akten aus der Nachkriegszeit. Einige der überlieferten Briefe und Dokumente konnten wir bei unserer Besichtigung einsehen.
Einer der letzten Orte, die wir in Prag besichtigten, ist die Spanische Synagoge. Hier, im ältesten der sechs Bauwerke, wird ein Überblick über die moderne Geschichte der tschechischen Jüdinnen und Juden gegeben. Auch das Gebäude mit seiner ausladenden Kuppel vermittelt eindrücklich die lange Geschichte der jüdischen Gemeinde in Prag.
Fazit
Die Studienfahrt verdeutlichte die prozesshafte Entwicklung von der Verfolgung zum Völkermord und zeigte die Rolle Theresienstadts im System des Holocaust eindrücklich. Durch die unmittelbare räumliche Erfahrung vor Ort wurden die historischen und geografischen Verbindungen zwischen den Orten Frankfurt am Main, Prag, Theresienstadt und die Vernichtungslager im besetzten Mittelosteuropa greifbarer.
Bei unserem Besuch in Terezín wurde beispielhaft die ambivalente Gleichzeitigkeit des Gedenkorts Theresienstadt als ehemaliger Tatort und als Ort des gegenwärtigen, alltäglichen Lebens deutlich. Ruth Klüger kehrte nach dem Krieg nach Terezín zurück, um noch einmal das Zimmer zu besuchen, in dem sie untergebracht war. Sie schrieb über ihre Eindrücke: »Dann schlenderte ich durch die Straßen, wo Kinder spielten, ich sah meine Gespenster unter ihnen, sehr deutlich und klar umrissen, aber durchsichtig, wie Geister sind und sein sollen, und die lebenden Kinder waren fest, laut und stämmig. Da ging ich beruhigt fort. Theresienstadt war kein KZ-Museum geworden. Es war ein Städtchen, wo Menschen lebten.« (Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, 1992, S. 104)
Die vereinzelten Ruinen der ehemalige Kasernengebäude in der Stadt und der mit Büchern gefüllte Raum in der Kleinen Festung stehen weiterhin sinnbildlich für die unerschlossenen Orte und Geschichten, die eine weitere Auseinandersetzung zur Erschließung der Lagergeschichte erfordern.
Mio Busch und Ruth Dahlhoff studieren an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und arbeiten als studentische Hilfskräfte am Fritz Bauer Institut.