Seit Februar 2015 setzt Dr. Christoph Dieckmann seine bereits im September 2011 am Fritz Bauer Institut begonnene und Ende August 2013 für eineinhalb Jahre ausgesetzte Arbeit im Rahmen des Forschungsprojekts »Jüdische Diskussionen im Exil in den zwanziger Jahren: Die Pogrome 1918–1921 und der ›jüdische Bolschewismus‹« fort. Das Projekt ist auf ein weiteres Jahr ausgelegt und wird gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
Das Stereotyp des »jüdischen Bolschewismus« spielt für den nationalsozialistischen Antisemitismus eine besondere Rolle. Mit seiner Hilfe gelang es den Nationalsozialisten, die Ängste vor einer sozialistischen Revolution mit den Ängsten vor einer liberal-kapitalistischen Entwicklung eines modernen demokratischen Staates zu verbinden und für die eigene politische Bewegung nutzbar zu machen. Das Stereotyp des »jüdischen Bolschewismus« war zu dem Zeitpunkt, als Hitler es in seinen ersten antisemitischen Hetzreden aufgriff, gerade erst entstanden. Seine Wurzeln hat es an verschiedenen Orten in verschiedenen Geschehnissen, in denen es jeweils weiterentwickelt und verfestigt wurde. Einmal in den vorrevolutionären Revolten und konterrevolutionären Agitationen des zaristischen Russland bzw. im russischen Bürgerkrieg. So findet sich bereits in den »Protokollen der Weisen von Zion« die Vorstellung einer doppelten jüdischen Verschwörung, die sowohl die staatlichen Mächte als auch die gegen diese Mächte gerichteten revolutionären Bewegungen insgeheim steuere. Mit dem Bürgerkrieg wird dann in der Agitation der Gegenrevolution sehr schnell die Verbindung von Bolschewismus und Judentum hergestellt und insbesondere in den Vorstellungen und Agitationen russischer Emigranten verfestigt und weiterverbreitet. So konnte das Stereotyp des »jüdischen Bolschewismus« sowohl in den Ereignissen der ungarischen Revolution und der Agitation gegen Béla Kun wie auch in der Münchner Räterepublik bereits zu einem bestimmenden Faktor des Geschehens werden. Es beeinflusste aber auch in hohem Maße die Pogrome im Bürgerkrieg nach der Russischen Revolution, deren besondere Radikalität und Brutalität schon von den Zeitgenossen registriert wurde. Unser Forschungsprojekt fragt vor allem nach Reaktionen von Juden auf die Entstehung und Verbreitung des Stereotyps. Die jüdischen Debatten und Schlussfolgerungen der 1920er Jahre werden dabei insbesondere im Kontext der Pogrome in Osteuropa zwischen 1918 und 1920 untersucht. Über die allgemeine Frage nach jüdischen Reaktionen auf den gewalttätigen Pogrom-Antisemitismus der Jahre 1918 bis 1921 hinaus geht es darum, wie jüdische Gruppen und Intellektuelle auf die antisemitische Gleichsetzung von Judentum und Bolschewismus reagierten.
Dr. Christoph Dieckmann studierte Geschichte, Soziologie und Volkswirtschaftslehre in Göttingen, Jerusalem, Hamburg, und Freiburg. Von 2005 bis 2014 war er Lecturer für moderne europäische Geschichte an der Keele University in Großbritannien. Er ist Mitglied der Redaktion der Beiträge zur Geschichte des Nationalsozialismus und gehört der Forscher- und Expertengruppe der »Internationalen Kommission für die Bewertung der Verbrechen der nationalsozialistischen und sowjetischen Besatzungsregime in Litauen« an. Seine umfassende zweibändige Dissertation Deutsche Besatzungspolitik in Litauern 1941–1944 erschien 2011 im Wallstein Verlag und wurde 2012 mit dem Yad Vashem International Book Prize for Holocaust Research ausgezeichnet.