Vom 13. bis 15. September 2010 fand in Arnoldshain das zweite interdisziplinäre Doktorandenseminar des Fritz Bauer Instituts in Kooperation mit der Evangelischen Akademie Arnoldshain statt. Die Veranstaltung leitete Jörg Osterloh gemeinsam mit Ole Jantschek (Arnoldshain) und Sybille Steinbacher (Jena/Frankfurt am Main). Sybille Steinbacher eröffnete die Veranstaltung mit einem öffentlichen Abendvortrag zum Thema »Gesellschaftsordnung durch Gewalt. Überlegungen zu einer vergleichenden Geschichte der Lager im 20. Jahrhundert«. Die Darstellung konzentrierte sich auf das »Dritte Reich«, die stalinistische Sowjetunion sowie das faschistische Italien.
An den folgenden beiden Tagen stellten acht Doktorandinnen und Doktoranden von deutschen, englischen und amerikanischen Universitäten in einer geschlossenen Veranstaltung ihre geplanten bzw. laufenden Arbeiten zur Diskussion. Den Auftakt machte Susanne Beer (Essen), die sich mit der Hilfe für Juden im »Dritten Reich« befasst. Bis heute sind nur etwa 3.600 Helfer/innen namentlich bekannt, ihre Gesamtzahl wird auf mehrere Zehntausend Menschen taxiert. Das Projekt geht der Frage nach, wie diese Wenigen dazu kamen, sich abweichend gegenüber den nationalsozialistischen Normen zu verhalten. Auf Basis von narrativen Interviewsequenzen mit Helfern und Untergetauchten sollen konkrete Hilfesituationen analysiert und die erinnerten Entscheidungssituationen möglichst dicht beschrieben werden. Christine Schoenmakers (Oldenburg) stellte ihre Arbeit zur Deutschen Golddiskontbank vor, einer Tochter der Reichsbank, die unter anderem als zentraler Umschlagplatz des Auswanderervermögens diente und für dessen Verwaltung, Transferierung und Einsatz im Namen der deutschen Wirtschaft sorgte. Merle Funkenberg (Kassel) befasst sich mit den Zeugen in NSG-Verfahren als Akteure und richtet den Fokus einerseits auf die psychisch wie physisch belastende Situation der Überlebenden vor Gericht, andererseits auf deren Betreuung durch ehrenamtliche Helfer. Gerd Kühling (Jena) untersucht den Umgang mit der NS-Vergangenheit in Ost- und Westberlin und lenkt den Blick auf die Auswirkungen von Kaltem Krieg, deutsch-deutschem Systemkonflikt und der jahrzehntelangen Teilung Berlins auf die Gedenkpolitik in der Stadt in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnten. Jacob S. Eder (Pennsylvania) analysiert westdeutsche kultur-, geschichts- und bildungspolitische Initiativen in den USA im Zeitraum zwischen 1977 und 1990: Insbesondere die Regierung Kohl bemühte sich um die Vermittlung eines positiven Deutschlandbildes vor dem Hintergrund eines stetig wachsenden Interesses der amerikanischen Bevölkerung an der Geschichte des Holocaust. Den Tag schloss Jörg Osterloh mit einem Abendvortrag über Fotografien und Feldpostbriefe von Wachmannschaften als Quellen für die Geschichte von Kriegsgefangenenlagern der Wehrmacht.
Den letzten Block eröffnete Christian Mentel (Berlin), der sein Vorhaben vorstellte, die Holocaustnegation sowohl in ihrem Gegensatz zu als auch in ihren Rückwirkungen mit der Geschichtswissenschaft sowie der Geschichts- und Erinnerungskultur zu erforschen. Dabei fragt er unter anderem nach den Strategien der Negationisten sowie den sich im Laufe der Zeit verändernden Argumentationsstrukturen bzw. Präsentationsformen der Holocaustnegation. Susanne Bressan (Berlin) befasst sich mit der Biografie der RAF-Terroristin Gudrun Ensslin im Kontext des privaten und öffentlichen Umgangs mit dem nationalsozialistischen Erbe in Deutschland. Martin Modlinger (Cambridge) stellte seine Untersuchung der Transformation von Geschichte zu Literatur am Beispiel Theresienstadts vor. Er untersucht unter anderem, wie es den Gefangenen im Ghetto gelang, ihren Leiden zum Trotz beachtliche kulturelle Leistungen zu vollbringen, und analysiert die dort entstandenen kulturellen Artefakte im Hinblick auf die historische Realität des Lagers.
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Seminars diskutierten ihre Vorhaben in einer sehr konstruktiven Arbeitsatmosphäre; im Mittelpunkt standen Fragen nach der Quellenlage und den methodischen Zugängen der einzelnen Projekte. Das nächste Doktorandenseminar wird vom 7. bis 9. Juni 2011 in Arnoldshain stattfinden; die Ko-Moderation übernimmt in diesem Jahr Dr. Andrea Löw vom Institut für Zeitgeschichte in München.
Vorträge
› Sybille Steinbacher, »Gesellschaftsordnung durch Gewalt. Überlegungen zu einer vergleichenden Geschichte der Lager im 20. Jahrhundert« (öffentlicher Abendvortrag)
› Susanne Beer, »Hilfe für Juden im Nationalsozialismus. Soziologische Untersuchung der Entscheidungssituationen und Karrieren von sogenannten Judenrettern«
› Christine Schoenmakers, »Täternetzwerke – Die Deutsche Golddiskontbank als Umschlagplatz für geraubtes jüdisches Vermögen und dessen Verwertung für den Krieg«
› Merle Funkenberg, »Die Betreuung von Zeugen der NS-Prozesse«› Gerd Kühling, »NS-Erinnerung in Berlin. Gedenkpolitik im Zeichen des Ost-West-Konflikts«
› Jacob S. Eder, »Holocaust-Erinnerung als deutsch-amerikanische Konfliktgeschichte«
› Jörg Osterloh, »Fotografien und Feldpostbriefe von Wachmannschaften als Quellen für die Geschichte der Kriegsgefangenenlager der Wehrmacht« (öffentlicher Abendvortrag)
› Christian Mentel, »Holocaustleugnung als Historiografie«
› Susanne Bressan, »Gudrun Ensslin. Die Biografie einer RAF-Terroristin im Kontext des öffentlichen Umgangs mit dem nationalsozialistischen Erbe in Deutschland«
› Martin Modlinger, »Approaching Something that repels: The History of the Terezín Ghetto Artists in Post-Holocaust Literature«
... Doktorandenseminar (Überblicksseite)
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