Im Zentrum dieses Forschungsprojekts stehen Person und Werks Herbert Jägers (1928–2014) und dessen Einfluss auf den rechtspolitischen Transformationsprozess in Westdeutschland von 1945 bis 1993. Das interdisziplinär angelegte Vorhaben liegt an der Schnittstelle zwischen Rechts- und Zeitgeschichte. Im Mittelpunkt stehen zwei prägende gesellschaftspolitische Auseinandersetzungen der 1950er und 1960er Jahre: der Konflikt um eine liberale Auffassung von Partnerschaft und Sexualität sowie der Umgang mit den Täterinnen und Tätern nationalsozialistischer Gewaltverbrechen. Die Verknüpfung beider Themenbereiche erscheint zunächst paradox. Obwohl die NS-Verfahren bei der überwiegenden Mehrheit der westdeutschen Gesellschaft auf Ablehnung stießen, hat kein anderes Thema ihr zeitgeschichtliches Bewusstsein stärker geprägt. Die NS-Verbrechen wurden als »Sünden von gestern« mit dem sexuellen Hedonismus der Nachkriegsgesellschaft als »Sünden von heute« gleichgesetzt.
Ausgehend von dem Wunsch, an die Zeit vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten anzuschließen, sollte mithilfe eines rigiden Sexualstrafrechts ein gesellschaftlicher Konsens durch eine Rückbesinnung auf traditionelle sittliche Normen hergestellt werden. Gleichzeitig sollte mit einem Anknüpfen an rechtspolitische Traditionen von vor 1933 der Nationalsozialismus mit seinen Verwerfungen gleichsam ungeschehen gemacht werden. Dem setzte Jäger mit seinen Arbeiten zum Sexualstrafrecht ein liberales Menschenbild entgegen und trug damit wesentlich zur Emanzipation vom autoritär-patriarchalischen Staat zu einer liberalen, freiheitlich denkenden Gesellschaft bei. Jägers innovative Überlegungen zu einem anderen Umgang mit den Täterinnen und Tätern der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen stießen im rechtspolitischen Diskurs der Zeit auf »beredtes Schweigen«.
Ziel des Projekts ist es, die unterschiedlichen diskursiven Ansätze beider Themenblöcke zu untersuchen und hierbei vor allem den innovativen Beitrag Herbert Jägers herauszuarbeiten. Ferner soll seine Habilitationsschrift »Verbrechen unter totalitärer Herrschaft« erstmals inhaltlich als Pionierarbeit auf dem Gebiet der Täterforschung einer kritischen Analyse unterzogen und schließlich seine umfassende Forschungsarbeit an der Goethe-Universität Frankfurt am Main auf ihre strafrechtspolitische Bedeutung hin untersucht werden.