Sie war von 1992 bis 2002 unsere Kollegin am Fritz Bauer Institut. Nun ist Jacqueline Giere verstorben.
Das erste Mal mitbekommen habe ich Jacqueline Giere auf dem Hearing, das Hanno Loewy für die »Arbeitsstelle zur Vorbereitung eines Lern- und Dokumentationszentrums des Holocaust am Kulturamt der Stadt Frankfurt am Main« im Oktober 1991 durchführte. Sie betonte die Chancen der Universalisierung des Lernens aus der Erfahrung des Holocaust. Das war eine dezidiert US-amerikanische Perspektive. Dabei war Jacqueline Giere eine deutsche Grundschullehrerin – allerdings gebürtige US-Amerikanerin. Sie war damals vom Schuldienst freigestellt für ihre Promotion über das Bildungswesen in den Displaced Persons-Camps.
Jacqueline Giere hatte an der Stanford University in Kalifornien studiert, dann an der Albert-Ludwig-Universität in Freiburg im Breisgau und an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main, wo sie 1978 ihr Examen im Fach Erziehungswissenschaften ablegte. Nach Unterrichtstätigkeit und Lehrerfortbildung in den Jahren 1978–1992 schloss sie 1992 ihre Dissertation zum Thema Erziehung und Kultur in den jüdischen Displaced Persons-Lagern der amerikanischen Zone im Nachkriegsdeutschland 1945–1949 ab.
Von 1992 an arbeitete sie in der »Planungsgruppe Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrum des Holocaust« als Vertreterin des Hessischen Kultusministeriums (HKM). Schließlich wurde sie vom HKM an die Arbeitsstelle abgeordnet. Eine promovierte Grundschullehrerin. Eigenartig, fanden wir damals. Wir, das war die kleine, engagierte und leider zerstrittene Szene der Lehrkräfte, die sich in Frankfurt am Main für die Erinnerung an die Geschichte der Juden der Stadt und die Geschichte des Holocaust und des Nationalsozialismus engagierten. Natürlich hatte es Diskussionen und Spekulationen gegeben, wer wohl im Rahmen dieser neu entstehenden Einrichtung als Lehrerfortbildungsexpertin arbeiten würde. Auf die Idee, dass es eine neue Person in diesem Arbeitsfeld geben könnte, die völlig andere Interessen und Schwerpunkte hätte, war keiner gekommen. Genau das war eine der Voraussetzungen für den Erfolg der Gründungsphase des Fritz Bauer Instituts: Das HKM schickte eine hochqualifizierte, im pädagogischen Arbeitsfeld erfahrene Kollegin, die nicht aus der Stadt kam, in der viele intensiv und aufopferungsvoll an diesem Projekt arbeiteten. Zunächst eine Provokation, war genau das die Chance, wirklich etwas Neues zu entwickeln und nicht in lokalhistorischen Themen stecken zu bleiben. Aber es kam natürlich vor allem darauf an, wie Jacqueline Giere mit dieser Herausforderung umging.
Was war das Neue? Bei einer Fortbildungsveranstaltung in einer Gesamtschule in Frankfurt am Main haben wir das erste Mal zusammengearbeitet. Ich kam von der Seite des Historischen Museums, wo ich als Lehrkraft abgeordnet war, Jacqueline Giere vom »Lern- und Dokumentationszentrum«, das eine städtische Institution war. In dieser Schule fanden wir unser gemeinsames Thema: Was geschieht in einer heterogenen Lerngruppe, wenn engagierte deutsche Lehrkräfte das Thema Holocaust behandeln? Da wir nicht Mitarbeiterin und Mitarbeiter einer Forschungseinrichtung waren, sondern in der Lehrkräftebildung arbeiteten, suchten wir nach praxisorientierten Vorschlägen, die zu dieser Situation passten. Die fand Jacqueline Giere zunächst in den USA. Ihre eigene Herkunft aus den USA, die sie ebenso gern wie reflektiert thematisieren konnte, spielte immer wieder eine Rolle für die Entwicklung des pädagogischen Profils des Fritz Bauer Instituts. So plante sie mit Angelika Rieber, einer Lehrerin aus dem Kreis der Frankfurter Geschichtsinitiativen, eine Fortbildungsveranstaltung mit dem Bostoner Institut »Facing History and Ourselves«. Diese einwöchige Veranstaltung fand dann für einige Jahre regelmäßig am Hessischen Landesinstitut für Pädagogik statt. Die Mit-Teamerinnen wechselten, aber Jacqueline Giere war immer dabei und entwickelte den Kontakt zu den amerikanischen Kollegen und europäischen Vertreterinnen der Institution.
Die Diskussionen und Erfahrungen der folgenden Jahre brachten uns gemeinsam in immer größere Distanz zum Programm von »Facing History and Ourselves«. Aber dieser Lernprozess formte das Profil der pädagogischen Arbeit des Fritz Bauer Instituts. Bei einem gemeinsamen Seminar, das 1998 mit den amerikanischen Kollegen in Frankfurt am Main und Weimar stattfand, wurde deutlich, wie eigenständig unser Konzept »Konfrontationen« inzwischen war. Wie oft haben wir, also Jacqueline Giere, Petra Mumme und ich, gegenseitig die Manuskripte und Tagungskonzepte kritisch zerpflückt und neu zusammengesetzt! Aber, und das ist das Bemerkenswerte an diesem Team, ohne Gehässigkeit, ohne Furcht vor der Kritik und mit einer großen Ruhe.
»Es ist so erleichternd, dass man in einem Seminar zu diesem Thema lachen kann…« Diese sehr ernsthafte Beobachtung habe ich immer wieder von Teilnehmern unserer Fortbildungsveranstaltungen gehört. Die Bereitschaft für eine Reflexion des Umgangs mit dem traumatisch besetzten Thema Holocaust, die von den pädagogisch Handelnden ausgeht, ist eine der großen Leistungen von Jacqueline Giere. Diese Fähigkeit kam auch den Mitarbeitenden des entstehenden Fritz Bauer Instituts zu Gute. Ihr Anteil an der Arbeitsatmosphäre im Institut war enorm, das von innen eher einer einigermaßen chaotischen Wohngemeinschaft der 1970er Jahre ähnelte als einem Kulturinstitut, während es bereits internationale Aufmerksamkeit erregte und nach außen immer wirkte, als hätte es zehnmal mehr Mitarbeitende als in der Realität. Sie leistete eine unendliche Arbeit der Beziehungspflege und Konfliktklärung. Jacqueline Giere gehörte zu den Leuten, die in den besten Werten und Sozialformen der Jugendbewegungen in der Mitte des 20. Jahrhunderts unverrückbar verwurzelt waren und dies auch in die Arbeit einbrachten.
Aber aus dem Abstand der etwa 20 Jahre seit Jacqueline Gieres Pensionierung bleibt neben ihren Publikationen zu den DP-Camps vor allem ihre Leistung bei der Entwicklung des Fritz Bauer Instituts. Seiner Zeit voraus war im deutschen Kontext dessen pädagogisches Profil, das sich vor allem im »Konfrontationen«-Projekt zeigte. Es führte praktisch vor, wie eine historisch-politische Bildung aussehen kann, die – in heutiger Terminologie – heterogenitätssensibel und mit klarem Blick für die Notwendigkeit der Multiperspektivität gedacht wird. Allerdings ohne dabei den Blick auf die Dimension des Gedenkens an die Opfer der NS-Massenverbrechen zu verlieren. Die sechsbändige Reihe der publizierten Material-Hefte Konfrontationen. Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust begann mit dem Heft »Identität«, es folgten »Gruppe«, »Ausschluss«, «Ghetto«, »Deportation« und »Todesmärsche und Befreiung«. So wird sichtbar, dass die Arbeit an der Geschichte des Holocaust von den gegenwärtigen Erfahrungen der Lernenden her entwickelt wurde. Diese Lernenden waren zunächst die Lehrkräfte, die in den Fortbildungsseminaren für eine Auseinandersetzung mit der eigenen Perspektive auf Diversität und Ausschluss ebenso angeregt werden sollten wie für die Notwendigkeit, die Verstrickung der eigenen Familiengeschichte mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu erkennen. Heute sind viele Pädagoginnen und Pädagogen in den Schulen und in außerschulischen Institutionen tätig, die ihre Familienbiographie nicht als »deutsch« betrachten. Die Erkenntnis, wie wichtig es ist, die eigene, jeweils unterschiedliche, Perspektive gerade im Hinblick auf Themen wie Menschenrechte und Verbrechen gegen die Menschheit zu reflektieren ist noch nicht überall durchgedrungen. Aber Jacqueline Giere war daran beteiligt, den Weg zu dieser Erkenntnis zu öffnen. Mit dieser Neuorientierung der historisch-politischen Bildung wirkte das Fritz Bauer Institut weit in die Entwicklung des gesamten Arbeitsfeldes hinein. Den Impuls dazu verdanken wir Jacqueline Giere .Daneben bleiben ihre Publikationen zu den DP-Camps und vor allem ihre Leistung bei der Entwicklung des Fritz Bauer Instituts.
Abbildungen in vergrößerter Ansicht
- Jacqueline Giere, Hanno Loewy, Gottfried Kößler (v. l.), Arbeitsstelle Fritz Bauer Institut, 1994
- Jacqueline Giere, Fritz Bauer Institut, April 2005
Publikationen (Auswahl)
- Jacqueline Dewell Giere, »Wir sind unterwegs, aber nicht in der Wüste« / »mir sajnen unterwegs, ober nischt in midber«: Erziehung und Kultur in den jüdischen Displaced Persons-Lagern der amerikanischen Zone im Nachkriegsdeutschland 1945–1949. Hochschulschrift (Dissertation), Frankfurt am Main 1993
- Hanno Loewy, Jacqueline Giere (Red.), Fritz Bauer Institut. Konzeption. Abschlußbericht der Planungsgruppe »Frankfurter Lern- und Dokumentationszentrum des Holocaust« Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1993
- Jacqueline Giere, Rachel Salamander (Hrsg.), Ein Leben aufs Neu: Das Robinson-Album; DP-Lager: Juden auf deutschem Boden 1945–1948, Begleitpublikation zur Ausstellung, Wien 1995
- Jacqueline Giere (Hrsg.), Die gesellschaftliche Konstruktion des Zigeuners. Zur Genese eines Vorurteils, Frankfurt am Main, New York 1996
- Jacqueline Giere u. a. (Red.), Newsletter zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Nr. 2–17, Frankfurt am Main 1992–1999
- Jacqueline Giere, »›Unterwegs, aber nicht in der Wüste‹ Traditionsbildung in Lagern für Displaced Persons in der Nachkriegszeit«, in: Ursula Apitsch (Hrsg.), Migration und Traditionsbildung, Opladen, Wiesbaden 1999, S. 35–44
- Jacqueline Giere, Gottfried Kößler, Konfrontationen. Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust, Heft 2: Gruppe, Frankfurt am Main 2001
- Jacqueline Giere, Tanja Schmidhofer, Konfrontationen. Bausteine für die pädagogische Annäherung an Geschichte und Wirkung des Holocaust, Heft 6: Todesmärsche und Befreiung, Frankfurt am Main 2001