The Institute

Tuesday, 1. January 2013

Die Tagebücher der Anne Frank

Forschung – Übersetzungen – Kritische Edition

Ein Projekt des Fritz Bauer Instituts in Kooperation mit dem
Lichtenberg Kolleg der Georg August Universität Göttingen.

Unsere Kenntnisse über den 2. Weltkrieg und über den Holocaust basieren siebzig Jahre nach Ende des Krieges auf einer breiten Quellenlage. Eine der ersten Quellen, die jahrzehntelang einen singulären Status innehatte, ist das Tagebuch der Anne Frank. Fast jedes Kind in Deutschland hat in seiner Schullaufbahn das Tagebuch gelesen. Nicht nur in der Biographie vieler Leser, sondern auch in der nationalen Erinnerungskultur begann die Auseinandersetzung mit dem Holocaust mit dem Tagebuch von Anne Frank. Es wurde zu einem Symbol. Anne Franks Schilderungen verloren im Laufe der Zeit ihre historische Verankerung und wurden mehr und mehr mit allgemeinen menschenrechtlichen und moralischen Vorstellungen verbunden. Die konkreten politischen Umstände der Judenverfolgung in den Niederlanden, Annes Familiengeschichte in Deutschland, ihre Emigration, die sie mit vielen deutschen Juden teilte, die Situation anderer durch den NS verfolgter Jugendlicher, um nur einige Themen zu nennen, spielten in der weltweiten Rezeption des Tagebuchs eine untergeordnete Rolle. Heute stehen zahlreiche Veröffentlichungen, Zeitzeugeninterviews und Autobiographien zum Holocaust zur Verfügung. Das Tagebuch von Anne Frank lässt sich heute im Kontext dieser Quellen erschließen. Es ist an der Zeit, die Geschichte des Tagebuchs selbst zum Gegenstand der Forschung zu machen. Bislang geschah dies vor allem in der Absicht, die Authentizität der Tagebücher zu belegen, da dies ein ständiges Thema in der Auseinandersetzung mit Holocaustleugnern war. Darüber hinaus stand die Frage im Fokus, wer an dem Verrat der Bewohner des Hinterhauses beteiligt gewesen sein könnte. Das geplante Forschungsprojekt nähert sich der Geschichte Anne Franks aus der Perspektive der deutsch-jüdischen Geschichte. Wie sah der breitere kulturelle und politische Kontext in den 1940er Jahren aus, als die Tagebücher entstanden? Welche Vorbilder standen Anne bei der Abfassung des Textes vor Augen, welche kulturellen Bezüge schuf sie? Wie sahen die politischen Bedingungen von Juden in den besetzten Niederlanden aus? Wie in Deutschland und den Nachbarstaaten? Welche Erfahrungen und Traditionen brachten Anne und ihre Familie mit nach Holland?
Darüber hinaus ist auch die Rezeptionsgeschichte der Tagebücher im Kontext der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte zu sehen. Welchen Metamorphosen war die Geschichte Anne Franks durch die vielen Nachbearbeitungen, die die Tagebücher erfuhren, ausgesetzt? Zu Beginn standen die Kürzungen, die Annes Vater Otto Frank vornahm, schließlich wurden die Texte bearbeitet und als Tagebuch, Theaterstück und Film in viele Sprachen übersetzt. Welche Kontexte wurden dadurch geschaffen, worauf richtete sich das Interesse der Rezeptionen? Wie schließlich wurde die Figur eines Teenagers im Nationalsozialismus weltweit zu einem Symbol für eine bessere Welt, das den Blick auf die reale Person verstellt und nicht selten kitschige Züge trägt?
Diesen Fragen wird in dem vorliegenden Forschungsprojekt nachgegangen.

Forschungs- und Editionsprojekt
»Anne Franks Tagebücher«
Neue historisch-kritische Ausgabe


Nach beinahe dreißig Jahren wird im Rahmen eines internationalen Forschungsprojektes des Fritz Bauer Instituts für die Erforschung und die Geschichte des Holocaust in Frankfurt am Main und des Lichtenberg-Kollegs, des Institute of Advanced Study der Universität Göttingen, eine neue kritische Edition der Tagebücher der Anne Frank entstehen. Diese unterscheidet sich wesentlich von der ersten kritischen Ausgabe. In einer zweibändigen Version sollen zum einen eine neue kritische und annotierte Übersetzung der originalen Texte, zum anderen die aktuellen Forschungsergebnisse des Projektes enthalten sein. Die Historiker Raphael Gross, Direktor des Fritz Bauer Instituts, und Martin van Gelderen, Direktor des Lichtenberg-Kollegs, treten als Herausgeber auf. Die englische Fassung wird voraussichtlich bei Cambridge University Press, die deutsche Ausgabe beim Fischer Verlag und die niederländische bei Uitgeverij Prometheus/Bert Bakker erscheinen. Als Übersetzer arbeitet Rolf Erdorf für die deutsche Version mit dem Forschungsteam zusammen.

Die Edition und der Essayband
Das Tagebuch der Anne Frank, das vor allem ihre Eintragungen im Amsterdamer Versteck zwischen dem 12. Juni 1942 und dem 1. August 1944 enthält, hat weltweit die Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust maßgeblich bestimmt. Ihre Aufzeichnungen existieren in drei verschiedenen Fassungen: Ihre ursprünglichen Eintragungen (Fassung A) überarbeitete Anne ab etwa April 1944 für eine eventuelle spätere Veröffentlichung (Fassung B). Als ihr Vater Otto Frank 1945 in den Besitz der Bücher kam, schuf er für die Veröffentlichung eine dritte Version (Fassung C).
Anders als die erste kritische Ausgabe von 1986, die den Beweis der Echtheit der Tagebücher führte, konzentriert sich die geplante neue Ausgabe auf den Text selbst. Die Annotationen sollen sowohl den Bruch im Leben des 14-jährigen Mädchens, der sich auch sprachlich fassen lässt, deutlich machen als auch die direkte Umgebung und den zeitlichen Horizont Anne Franks beleuchten. Anne Frank wird sichtbar als eine Jugendliche, die sich zwischen zwei Sprachen bewegte und spürbar von ihrer Lektüre der niederländischen Jugendliteratur beeinflusst war. Für die neue Übersetzung wird darauf geachtet, die ursprüngliche Sprache Annes historisch angemessen darzustellen. Rolf Erdorf, bekannter und mehrfach ausgezeichneter Übersetzer für niederländische Kinder- und Jugendliteratur, konnte für die deutsche Übersetzung gewonnen werden. Hauptanliegen des Übersetzers ist es, das 14-jährige Mädchen Anne in den Texten wieder erkennbar zu machen und ihre Sprache in der ihr eigenen literarischen Qualität nachzuzeichnen. Martin van Gelderen, in den Niederlanden geboren und aufgewachsen, erläutert dazu: »In den Gesprächen mit den Übersetzern ist deutlich geworden, dass eine neue Übersetzung unbedingt nötig ist.«
Da der ursprüngliche Text zu weiten Teilen die historische Verankerung verlor und für recht breit gefasste menschenrechtliche oder moralische Ziele verwendet wurde, soll die Geschichte des Tagebuchs vor dem Hintergrund einer eher vergleichenden europäischen, bisweilen sogar globalen Kultur-, Geistes-, Literatur- und Politikgeschichte interpretiert werden. Band 2 setzt sich demnach mit den Tagebüchern und deren bedeutsamer internationaler Wirkungsgeschichte auseinander. Im Mittelpunkt dieses Forschungsvorhabens steht somit die genaue Kontextualisierung sowie die Rezeptionsgeschichte der vergangenen Jahrzehnte, sei es im öffentlichen Raum, in der Literaturkritik oder von Seiten der Verlage. Ebenso von Interesse sind aber auch die Interpretationen, die der Text durch die Dramatisierung auf der Bühne, durch Bearbeitungen für das Kino oder für musikalische Inszenierungen erfahren hat. Raphael Gross betont: »Die Tagebücher sind eine Art Urtext aller Auseinandersetzung mit dem Holocaust geworden. Eine kritische Ausgabe und eine historische Kontextualisierung sind wissenschaftshistorisch eine zentrale Aufgabe der Holocaustforschung.«
Staatsministerin Monika Grütters, die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien, begründet die Unterstützung der Bundesregierung für dieses groß angelegte Vorhaben: »Anne Frank ist zum Gesicht der Opfer des Holocaust geworden. Sie hat durch ihre Aufzeichnungen Generationen junger Menschen zur Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Terror bewogen. Die umfassende wissenschaftliche Bearbeitung dieses wichtigen literarischen Erbes wird uns wertvolle Einblicke in die Persönlichkeit von Anne Frank und ihre große Wirkung auf die Rezeption des Holocaust geben.«

Forschungsteam
Am Lichtenberg-Kolleg konnten dank der finanziellen Unterstützung des Forschungsprojektes durch Mittel des Anne Frank Fonds in Basel und der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien drei Junior Research Fellowships für dieses Projekt eingerichtet werden. Hier arbeiten Kata Bohus und Iwona Gusc zur Rezeptionsgeschichte aus verschiedenen Perspektiven. Gerben Zaagsma forscht zum historischen Kontext der Tagebücher und erstellt die Annotationen. Zum Forscherteam gehören außerdem Senior Fellows mit internationaler Reputation. Neben den Herausgebern sind das u.a. Dan Diner (Leipzig/Tel Aviv), Bob Moore (Sheffield), Mark Roseman (Bloomington), Bo Strath (Helsinki), Frank van Vree (Amsterdam), Kees Ribbens (Amsterdam) und Hanna Yablonka (Beer Sheva). Das Projekt arbeitet zudem eng mit dem Familie Frank Zentrum in Frankfurt am Main zusammen, wo die Archive der Familien und des Anne Frank Fonds lagern.


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